Wie ist es eigentlich, ein Baby zu sein?

Latest Posts  •   14. April 2016

Photo: „Julia“ by Federico Racchi https://www.flickr.com/photos/moja2/5547912701 is licensed under a Creative Commons license: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Fragt man Alison Gopnik, wie es wohl sei, ein Baby zu sein, würde sie antworten: “Es ist, wie wenn man verliebt und zum ersten Mal in Paris ist, und drei doppelte Espressi getrunken hat.”

Damit meint sie, dass es sehr aufregend ist, ein Baby zu sein. Für Babys ist die Welt noch ganz neu, lebendig und so spannend, dass sie ihr zu jedem Zeitpunkt ihre volle Aufmerksamkeit widmen wollen – etwas, was für uns Erwachsene häufig nur noch zutrifft, wenn wir an unbekannte Orte reisen, verliebt sind oder zu viel Kaffee getrunken haben.

Moderne Studien beweisen, dass das Bewusstsein von Babys und Kleinkindern viel besser entwickelt ist, als es lange von Psychologen und Philosophen angenommen wurde – vielleicht sogar besser als das von Erwachsenen.

Seit über 30 Jahren beschäftigt sich Alison Gopnik – Autorin von “Forschergeist in Windeln” und “Kleine Philosophen”, sowie Professorin für Psychologie an der University of California, Berkeley – intensiv mit der Entwicklung und dem Lernen von Babys und Kleinkindern.

Ihre Studien zeigen, dass das Baby-Hirn viel flexibler ausgestattet ist, als das von Erwachsenen. Es ist besser vernetzt, offener und besonders gut darin, viele Informationen von vielen verschiedenen Quellen gleichzeitig aufzunehmen.

Es ist hingegen nicht so gut darin, sich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Viel lieber achten Babys auf alles, was unbekannt und aufregend ist und viele neue Informationen für sie bereithält. Es ist also nicht so, dass Babys und kleine Kinder schlecht darin sind, sich zu konzentrieren, erklärt Gopnik, ganz im Gegenteil, sie sind schlecht darin, sich nicht zu konzentrieren.

Sie vergleicht die Aufmerksamkeit von Erwachsenen mit einem Scheinwerfer und beschreibt sie als eine sehr fokussierte, zweckgetriebene Art der Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit von Babys und Kleinkindern hingegen, vergleicht sie mit einer Laterne, die ihr Licht auf möglichst viele interessante Dinge gleichzeitig wirft.

In ihrem inspirierenden TED Talk “Was denken Babys?” zeigt Gopnik, dass Babys und Kleinkinder wesentlich intelligenter sind, als wir es ihnen zutrauen würden. Und sie fordert die Zuhörer auf, die Konsequenzen zu berücksichtigen, die ihre Erkenntnisse für die frühkindliche Erziehung mit sich bringen.

Sie warnt vor dem Trend, Kindergärten immer schulischer zu machen und plädiert für möglichst viel freies und kindgerechtes Spiel in der Früherziehung.

Sie fragt sich, warum es in der Früherziehung vor allem um die Ausbildung von Fertigkeiten geht, die erst später, im Erwachsenen-Leben, wichtig werden und für Kleinkinder sehr schwer zu erlernen sind.

Kleinkinder sind nicht dafür gemacht, zu planen und bestimmte Fähigkeiten oder Fakten zu lernen, und wenn man sie dazu zwingt und ihnen nicht erlaubt, von anderen Möglichkeiten “abgelenkt” zu werden, beraubt man sie ihrer Aufgeschlossenheit, Phantasie, Kreativität und Innovation – und letztendlich ihrer angeborenen Fähigkeit und Liebe zum Lernen.

Kleine Kinder sind dafür geschaffen, spielerisch auf Entdeckungsreise zu gehen und breit gefächert zu lernen.

Sie sind sehr gut darin, zu beobachten, zu erkunden und zu träumen. Sie suchen sich zum Spielen vor allem die Gegenstände aus, von denen sie am meisten Lernen können und sind dabei durchaus in der Lage, statistische Auswertungen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen aufzustellen – ähnlich wie die brilliantesten Wissenschaftler.

Spielerisch – und durch das Beobachten ihres Umfelds – lernen sie, sich ihre Welt zu erschließen. Dafür brauchen sie nichts anderes als ganz normale Alltagsgegenstände (Puppen, Pappkartons und Töpfe) und den natürlichen Umgang mit ihren Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen.

In ihrem NYT Artikel “Your Baby Is Smarter Than You Think” (auf deutsch: Babys sind klüger als wir denken), schreibt Gopnik, dass das natürliche Lernen von Babys und Kleinkindern – ein Lernen, das beim Beobachten von unerwarteten Ereignissen und deren Auswertung stattfindet oder beim unermüdlichen Hantieren mit einem neuen Spielzeug – sich sehr vom Lernen in Schule und Kindergarten unterscheidet und von diesem sogar verhindert werden kann.

So zeigt Gopniks Forschung unter anderem, dass der angeborene Forschungsdrang von Babys und Kleinkindern nachlässt, wenn man ihnen zeigt, wie ein bestimmtes Spielzeug funktioniert. Sobald sie merken, dass ihnen gerade etwas beigebracht wird, sind sie weniger interessiert, geben ihre eigenen Forschungsmethoden auf und verlieren an Kreativität. Sie ahmen das Gezeigte nur noch nach und stellen keine eigenen Hypothesen mehr auf. Erlaubt man ihnen allerdings frei zu spielen, sind ihre Möglichkeiten unbegrenzt. Spielen bedeutet auszuprobieren, zu entdecken und kreativ zu sein und ist der Grund, warum Babys in so kurzer Zeit so viel lernen können.

Auch wir Erwachsene können von diesem “Laternen-Zustand” profitieren. Es ist nicht immer hilfreich, ganz fokussiert und zweckgetrieben zu denken – in unserer heutigen Welt gewinnen Qualitäten wie Kreativität, Phantasie, Innovation und Aufgeschlossenheit zunehmend an Bedeutung. Deswegen ermuntern wir unsere Schüler an der Modern Music School, häufiger wie ein Baby zu denken!

Da das Erwachsenen-Hirn von unseren Kindheitserfahrungen programmiert wird, kultivieren wir hier beide Arten der Aufmerksamkeit – die fokussierte, zielgerichtete Aufmerksamkeit eines Scheinwerfers einerseits und die breit gestreute, alles aufnehmende Aufmerksamkeit einer Laterne andererseits.

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2020-04-24T07:26:12+00:00April 14th, 2016|

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